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Wie erhöhen wir die Resilienz der Supply Chain?

Mit der Coronapandemie und der Ukraine-Krise ist die Belastbarkeit der Lieferketten zu einem entscheidenden Wettbewerbsfaktor geworden. Ist das Supply Chain Management zum Supply Chain Risk Management geworden?
CEO Stephan Nell diskutiert mit Sebastian Fabel von thyssenkrupp und Michael Henke vom Fraunhofer-Institut für Materialwirtschaft, wodurch die Supply Chain an Resilienz gewinnen kann

Herr Fabel, just in time, das war einmal …

Sebastian Fabel: Supply Chain Risk Management ist wichtiger geworden. Früher, just in time, ist man davon ausgegangen, die Lieferkette funktioniert. Ich habe minimale Bestände. Wir leben in einem eingespielten System. Das war plötzlich vorbei. Die Chips sind nicht mehr gekommen. Klar gibt es diverse technologische Hilfestellungen, Risk-Management-Tools, Visibilitätssoftware et cetera. Die Kompetenz im Umgang damit ist das Entscheidende. Das Thema ist in der strategischen Diskussion an eine andere Stelle gerückt.

Michael Henke: Das, was viele Unternehmen Risk Management nennen, ist eher ein Krisenmanagement. In dem Moment, in dem Lieferketten wegbrechen, ist die Krise ja schon da, das Risiko virulent und damit kein professionelles Risikomanagement mehr. Ein proaktives Risikomanagement dagegen versucht, den Krisenfall so weit wie möglich zu verhindern. Das gelang einigen Unternehmen auch in der Coronakrise auffallend gut. Offenbar hatten sie den in den Jahren davor nie aufgetretenen Fall einer gravierenden Pandemie auf dem Risikoradar und Notfallpläne in der Schublade.

CEO Stephan Nell erläutert, wieso sich die Lieferketten der UNITED
GRINDING Group in Krisenzeiten als relativ robust erwiesen haben

Herr Nell, die Lieferketten der UNITED GRINDING Group haben sich gegenüber den Verwerfungen als relativ robust erwiesen.
Wie wurde das geschafft?

Stephan Nell: Ein Aspekt ist: Wir haben nie so sehr darauf fokussiert, wo das Material am günstigsten zu bekommen ist. Wir kaufen oft in der Nähe, dort, wo wir produzieren. Ein anderer Punkt ist: Wir binden unsere Lieferanten früh ein. Und weiter wichtig: Die UNITED GRINDING Group hat eine hohe Wertschöpfungstiefe. Wir brauchen oft nicht die fertige Komponente, sondern nur das Rohmaterial - das in der Krise einfacher zu beschaffen war.

Wie schwer waren Sie trotzdem betroffen?

Stephan Nell: Wir haben das gespürt. Eine Zeit lang haben wir etwa ein Drittel der Technikkapazität investiert, um zu prüfen, wie wir die Maschinen mit anderen Komponenten bauen können, in gleicher Qualität. So und mit großem Einsatz und mit Flexibilität im Operationsbereich ist es uns gelungen, dass wir ungefähr 40 Prozent schneller in der Lieferung waren als die meisten Wettbewerber. Das Verbauen anderer Teile hat für uns als Maschinenhersteller allerdings noch die Konsequenz, dass es uns für die nächsten 20, 30 Jahre begleitet - so lange müssen die Teile im Service lieferfähig sein.

Prof. Dr. Michael Henke vom Fraunhofer-Institut empfiehlt die Blockchain-Technologie zur Erhöhung der Resilienz von Lieferketten

Oft ist zu hören, die Ausrichtung des Supply Chain Management in den Unternehmen müsse sich ändern. Von geringen Beständen hin zu höherer Versorgungssicherheit, ein Stück weit weg von der Effizienz. Teilen Sie das?

Stephan Nell: Theoretisch ja, aber in der Praxis hat man meist nicht zu wenig Lagerbestände, man hat nur das Falsche. Und die Kunst ist eigentlich, die richtigen Teile am Lager zu haben. Ich halte nichts davon, riesige Lagerbestände anzulegen, um gewappnet zu sein für eine Krise, die irgendwann mit Sicherheit wieder kommen wird. Wenn ich heute Lagerbestände anlege und die Krise kommt in fünf Jahren, habe ich garantiert das Falsche da. 

Sebastian Fabel: Es geht sicher nicht darum, Lagerbestände ins Unermessliche zu steigern. Wir sehen ja auch, wie sich Kapitalbindungskosten, Zinsen und Inflation entwickeln. Es besteht ja weiterhin die Anforderung, das Working Capital möglichst gering zu halten.

Stephan Nell: Wir testen gerade eine Art Frühwarnsystem. Eine Software scannt die Informationen auf der Welt, die für eine reibungslose Zulieferung relevant sind. Daraus sollte man dann ableiten können, ob es eine Auswirkung gibt auf eine Komponente, die wir in sechs Monaten oder in drei Monaten kaufen müssen. Vielleicht hilft es, vielleicht nicht.

Michael Henke: Um Unterbrechungen von Lieferketten und die Verzögerungen in Lieferprozessen möglichst gering zu halten, braucht es vor allem eines: Transparenz! Je früher und klarer ich sehe, was in einer Lieferkette auf mich zukommt, desto eher, flexibler und kostengünstiger kann ich Disruptionen und Verzögerungen erfolgreich verhindern oder in ihren Auswirkungen zumindest verringern. Damit schaffe ich gleichzeitig eine Grundlage für Nachhaltigkeit und Flexibilität. Je klarer ich sehe, desto nachhaltiger und flexibler kann ich managen.

« EIN PROAKTIVES RISIKOMANGEMENT VERSUCHT, DEN KRISENFALL SO WEIT WIE MÖGLICH ZU VERHINDERN. »
Michael Henke
Sebastian Fabel zeigt auf, wie die „Materials-as-a-Service“-Strategie bei thyssenkrupp auf die Supply Chains der Kundschaft wirkt

Herr Dr. Fabel, mit 250.000 Kunden weltweit ist thyssenkrupp mit der Strategie „Materials-as-a-Service“ zu einem Intermediär in Sachen Lieferketten geworden. Was bedeutet das?

Sebastian Fabel: thyssenkrupp hat selbst viel Inhouse-Expertise, um Standorte, Produkte und Supply-Chain-Netzwerke zu steuern. Vor dem Hintergrund zunehmender Herausforderungen in der Lieferkette nutzen wir diese Kompetenz im Rahmen unserer „Materials-as-a-Service“-Strategie, indem wir unsere Kunden mit innovativen Dienstleistungen unterstützen, zum Beispiel dem Demand Forecasting oder der Optimierung kompletter Lieferketten.

Herr Nell, gibt es da Anknüpfungspunkte?

Stephan Nell: Es kommt immer darauf an, wo man selber steht. Wir haben vor einigen Jahren alle Werke in einem SAP-System vernetzt und planen in einem System über alle Werke hinweg. Das hat uns in der Situation geholfen, weil wir auf allen Kontinenten zugreifen konnten. Wenn Sie einen Kunden haben, der noch nicht so weit ist, ist die Umsetzung eines solchen Projekts ziemlich aufwendig – da sind Ihre Services sicher sinnvoll.

Würden alle in der Runde die Aussage unterschreiben, je höher der Digitalisierungsgrad der Lieferkette, desto intelligenter?

Sebastian Fabel: Nein.
Stephan Nell: Nein.
Michael Henke: Jein.

Da waren Sie aber schnell!

Sebastian Fabel: Einen schlechten Prozess zu digitalisieren macht daraus nur einen schlechten digitalen Prozess, aber immer noch keinen guten. Digitalisierung ist kein Selbstzweck, sie muss intelligent gemacht werden, damit sie einen Mehrwert schafft. Und da kommt sicher datenbasierte Intelligenz ins Spiel. Allein die Informationsverarbeitung, die sich damit anbietet! Ob das jetzt Wechselkurse oder politische Risiken sind, Nachfragen oder Preise. Es entsteht eine ganz andere Grundlage, Entscheidungen zu treffen. Das hilft bei der Prognosegüte, bei Visibilität und Reaktionsschnelligkeit.

Stephan Nell: Die Voraussetzungen sind die richtigen Prozesse. Die können wir dann digitalisieren, aber erst muss der Prozess stimmen. Wir hatten in der Krise auch Zusagen von Lieferanten, die ein paar Stunden später revidiert wurden. Da hieß es, bei uns macht jetzt eine KI die Zuteilung. Ich habe lieber Menschen am Telefon als eine KI, die mir alle 24 Stunden einen neuen Bedarf rechnet und zu wissen glaubt, was wir verkaufen. Das muss alles noch weiterentwickelt werden.

Michael Henke: Niemand erreicht das heute erforderliche Ausmaß an Transparenz mit Zettelwerk und Clipboard. Das zeigten bereits vor Corona und Ukraine-Invasion Krisen wie die Finanzkrise oder Fukushima. Anstelle dessen brauchen wir alles, worüber Nellwir bereits an Hard- und Software nach Stand der Technik verfügen, besonders aber die Blockchain-Technologie. Diese kann tatsächlich, wenn sie breit zum Einsatz kommt, exzellente Transparenz über die mit Blockchain verbundenen Unternehmen schaffen. Am Fraunhofer IML haben wir uns mit der Entwicklung der Silicon Economy zum Ziel gesetzt, Wertschöpfungsprozesse durchgängig und komplett zu virtualisieren und auf dieser Grundlage dann auch zu automatisieren und zu autonomisieren.

Stephan Nell: Transparenz muss aber auch gewollt werden. Je vernetzter ein System ist, desto anfälliger ist es. Ist der Effizienzgewinn noch so groß, dass es sich lohnt, das Risiko einzugehen, dass die Maschinen bei einer Cyberattacke komplett stehen? Wir haben das am eigenen Leib erfahren. Wir wurden angegriffen, und wir mussten die Systeme hart runterfahren. Unsere Werke hatten unterschiedliche Vernetzungsstände. Ein Werk, in dem die Systeme noch ein Stück weit getrennt waren, ist schneller wieder gelaufen als das voll automatisierte, da hat es am längsten gedauert.

 

« DIE KUNST IST, DIE RICHTIGEN TEILE AM LAGER ZU HABEN. BESTÄNDE ALLEIN REICHEN NICHT. »
Stephan Nell

Es heißt oft, man habe auch gelernt mit der Coronaerfahrung. Aber was genau? Und kann man auf der Grundlage in die Zukunft schauen?

Michael Henke: Churchill sagte: „Never let a good crisis go to waste!” Wenn wir eines gelernt haben: Die Zeiten werden nicht sicherer. Daher müssen wir besser und schneller aus Krisen lernen und unsere Wertschöpfungsnetzwerke weiterentwickeln. Wenn Supply-Chain-Managerinnen und -Manager alle verfügbaren und verfügbar gemachten Daten eines Wertschöpfungsnetzwerks einsammeln, können sie – idealerweise via Echtzeitmonitoring – erkennen, wer in der Lieferkette wo und wodurch betroffen ist.

Wirkt der Klimawandel inzwischen auch auf die Lieferketten?

Sebastian Fabel: Bemerkbar macht sich noch nicht der Klimawandel selbst, sondern die verschiedenen Präventionsmaßnahmen wie Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, Emissionsreporting, Emissionsvermeidungsstrategien. Und in den Unternehmen die Suche nach Konzepten, dem gerecht zu werden, Emissionen zu reduzieren und zirkuläre Wertschöpfung zu ermöglichen.

Stephan Nell: In der UNITED GRINDING Group ist bei der Beschaffung auch ein ökologischer Aspekt ausschlaggebend. Es macht keinen Sinn, Komponenten über die Weltmeere zu fahren, wenn sie auf demselben Kontinent auch zu kaufen sind. Transport ist meiner Meinung nach zu billig. Es lohnt sich, günstige Bauteile von A nach B zu transportieren, weil der Transport de facto nichts kostet. Ich denke, dass die Welt von mehr Nearshoring profitieren könnte. Wir sehen das schon auf Kundenseite. Nicht in Europa. Aber in Europa reden wir erst mal ganz lange über ein Thema. Es gibt andere Länder auf der Welt, die haben damit einfach begonnen. Das könnte dazu führen, dass die Transportvolumina abnehmen, was dem Klima mit Sicherheit helfen würde.

Wie schwer ist es, den Ansprüchen von Gesellschaft und Politik an die Lieferketten zu genügen? Entstehen hier nicht häufig divergierende Ziele?

Sebastian Fabel: Sicher führt das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz erst mal zu einem Aufwand. Wir sehen aber auch die Chancen in nachhaltigen Lösungen. Aktuell arbeiten wir zum Beispiel mit einem Hersteller von Produktionsequipment an einem Forschungsprojekt, in dem wir die Visibilität in der Lieferkette erhöhen, um den Blechverschnitt in der Lieferkette zu reduzieren und darüber Material und CO2 einzusparen.

Stephan Nell: Für uns als Mittelständler ist vieles sehr schwer umzusetzen und nicht praxistauglich. Wenn wir Stahl kaufen beim Händler, wissen wir oft nicht, aus welcher Gießerei der kommt, wie viel Strom bei der Erzeugung verbraucht wurde, geschweige denn wie nachhaltig dieser erzeugt wurde … Die Politik in Europa tut sich schwer, ein Maß zu finden, wie der Energieverbrauch einer Maschine zu bewerten ist. Das funktioniert nicht wie bei einer Waschmaschine. Wenn es gelingt, den Prozess zu optimieren und das Teil dreimal schneller herzustellen, ist der Beitrag an das Klima viel höher, als wenn die Maschine etwas weniger Energie zieht.

Sebastian Fabel: In unserem Schweizer Projekt t-kontrol werden Dokumente digitalisiert, um für den Kunden die Historie eines Produkts sichtbar zu machen und mittelfristig aufzuzeigen, aus welcher Ursprungsmine das Erz kommt, das in einem Produkt steckt. Der Kunde erhält dadurch eine lückenlose Transparenz und einen digitalen Papierverlauf. Das entwickeln und verproben wir derzeit mit unseren Kunden, die darüber auch die CO2-Bilanz abbilden und berechnen können.

Stephan Nell: Sie sagen, Sie entwickeln. Aber wir haben die Herausforderungen heute.

Sebastian Fabel: Ja, das ist genau die Frage. Wie schaffe ich vom Status quo und von Pilotprojekten den Übergang zum Zielbild und zu einer Skalierung? Als die „Ever Given“ im Suezkanal stecken geblieben ist, hat sich wohl jeder Echtzeittransparenz gewünscht, um zu wissen, welche Materialien wo sind. Aber da gab es, glaube ich, zu viele Telefonanrufe und Excel-Dateien, um das herauszufinden. Die Kosten waren dann viele Milliarden Dollar.

« DIGITALISERUNG IST KEIN SELBSTZWECK. SIE MACHT AUS SCHLECHTEN PROZESSEN KEINE GUTEN. »
Sebastian Fabel
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